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„O Radix Jesse“ – Hoffnung aus dem Stumpf

vor 4 Stunden in Spirituelles, keine Lesermeinung
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Gedanken zur O-Antiphon des 19. Dezember. Von Archimandrit Dr. Andreas Thiermeyer


Eichstätt (kath.net) O Radix Jesse, qui stas in signum populorum, super quem continebunt reges os suum, quem gentes deprecabuntur: veni ad liberandum nos, jam noli tardare.
„O Wurzel Jesse, du stehst als Zeichen für die Völker;
Könige verstummen vor dir, die Nationen flehen dich an:
komm, befreie uns – säume nicht länger.“

1. Eine Wurzel in einer entwurzelten Zeit
Meine Lieben,
die dritte O-Antiphon beginnt nicht mit einem Stern, nicht mit einem Engel, nicht mit einer Krippe, sondern mit einer Wurzel.
Nicht besonders poetisch – eher unbequem: Wurzeln sieht man normalerweise nicht. Sie liegen im Dunkeln, im Boden, unter der Oberfläche.

Die Bibel spricht hier von der „Radix Jesse“, der Wurzel Jesses, des Vaters Davids. Jesaja sieht vor sich kein prächtiges Königshaus, keinen mächtigen Baum, sondern einen abgehauenen Stumpf: die Dynastie am Ende, das Reich zerbrochen, die Hoffnungen begraben. Was bleibt, ist ein Stück Holz im Boden – stumpf, tot, nutzlos.

Und gerade dort, sagt Jesaja, wächst ein neuer Spross. Ein zartes Grün bricht hervor, fast unscheinbar – doch von Gott getragen:
„Ein Reis wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais, ein Schössling wächst hervor aus seinen Wurzeln.“

O Radix Jesse nimmt dieses Bild auf und konzentriert es in ein Gebet:
Du Wurzel Jesse, du stehst als Zeichen für die Völker… komm, befreie uns – säume nicht länger.
Der Advent beginnt an dieser Stelle mit einer sehr nüchternen Einsicht:
Gottes Heil wächst nicht in idealen Verhältnissen, sondern mitten in der Geschichte, wie sie ist –
mit Brüchen, Abstürzen, Niederlagen.
Nicht über, sondern durch den Stumpf hindurch.

2. Wurzel – Rute – Blume: Christus aus Israels Erde
Die Kirche hat dieses Bild von Anfang an auf Christus gelesen:
Er ist der Sohn Davids, der aus der Linie Jesse kommt, der Spross, der aus der alten Wurzel wächst.

Die Väter haben das gern in einem Dreiklang entfaltet:
•    Wurzel – Jesse, die David-Linie, die verborgene Tiefe der Geschichte Israels;
•    Rute – der Schößling, oft als Bild für Maria verstanden: aus dieser Linie, arm, unscheinbar, ganz verfügbar für Gott;
•    Blume – Christus selbst, der sichtbare, duftende, zarte, aber starke Vollzug dieser Verheißung.

So wird die Wurzel Jesse zu einem geistlichen Stammbaum:
•    Die Wurzel bleibt verborgen: Gottes Treue, die tiefer reicht als alle politischen Katastrophen Israels.
•    Die Rute ragt in die Zeit: Maria, in der diese Treue einen Ort findet.
•    Die Blume bricht auf: Jesus, der Messias, in dem die Verheißung Israels aufblüht.


O Radix Jesse ruft im Grunde alles auf einmal an:
den Christus, der in Israel verwurzelt, in Maria aufgesprossen und für die Welt zur Blüte geworden ist.

Das bewahrt uns vor einer gefährlichen Versuchung:
Christus ist nicht ein allgemeiner religiöser „Guru“, nicht eine abstrakte Symbolfigur,
sondern der konkret Verwurzelte – in einem Volk, einer Geschichte, einer Genealogie.
Wer ihn anruft, kann die Wurzel Israel nicht abschneiden, ohne ihn selbst zu verlieren.

3. Hoffnung aus dem Stumpf – wenn alles abgesägt scheint
Jesaja sieht einen Stumpf. Das ist wichtig.
Ein Stumpf erzählt von etwas, das war:
Da stand einmal ein Baum. Da gab es Kraft, Schatten, Früchte, Geschichte.
Jetzt ist er gefällt. Die Axt hat ihre Arbeit getan. Ende.
Viele kennen dieses Bild aus dem eigenen Leben:
•    eine Beziehung, die zerbrochen ist,
•    eine berufliche oder kirchliche Aufgabe, die man mit Herzblut getragen hat und die nun „abgesägt“ ist,
•    eine Gemeinde, die schrumpft, eine Kirche, die um ihre Zukunft ringt,
•    eine Gesellschaft, in der vieles wie „nach dem Sturm“ aussieht.

Jesaja beschönigt das nicht. Er malt keinen heilen Baum, wo keiner ist.
Aber er sieht mehr als den Stumpf:
Er sieht die Wurzel, die noch lebt.
Und er sieht den Spross, der kommen wird.

Genau hier setzt O Radix Jesse an. Es ist das Gebet derer,
•    die die Stümpfe sehen – auch die eigenen: Enttäuschungen, Fehler, verlorene Jahre;
•    die aber zugleich an die tiefere Wurzel glauben: Gottes Treue, die nicht abgehauen werden kann.

Advent heißt dann:
Ich starre nicht auf den Stumpf, ich bete zur Wurzel.
Ich leugne den Schaden nicht, aber ich überlasse das letzte Wort nicht der Axt, sondern Gott.
Vielleicht ist das die stille Frage dieser Antiphon an uns:
Wo in meinem Leben sehe ich nur noch Stümpfe – und glaube nicht mehr an Wurzeln?
Wo habe ich innerlich schon beschlossen: Hier kommt nichts mehr?
„O Wurzel Jesse“ ist das Gebet, genau dort noch einmal zart, aber entschieden zu hoffen.

4. Ein Zeichen für die Völker – Könige, die schweigen
Die Antiphon geht weiter:
„…du stehst als Zeichen für die Völker; Könige verstummen vor dir, die Nationen flehen dich an.“
Der Spross aus dem Stumpf wird zum Zeichen, zum Banner, zum Orientierungspunkt.
Nicht nur für Israel, sondern für die Völker.
Paulus liest diesen Vers ausdrücklich so: Auf ihn, die Wurzel Jesse, sollen die Nationen ihre Hoffnung setzen.

Das bedeutet zweierlei:
1.    Christus gehört nie nur „uns“ – er gehört nicht einer Nation, nicht einer Konfession, nicht einem Milieu.
Wo er als Wurzel Jesse angebetet wird, entsteht immer ein Raum, in dem viele Platz haben:
Menschen mit verschiedenen Sprachen, Geschichten, Wunden, Kulturen.

2.    „Könige verstummen vor dir“ –
Vor diesem Zeichen wird jede Macht relativ.
Vor dem Kind aus der alten Wurzel schweigen die Selbstgewissen, die Lauten, die Starken.
Die Macht dieser Welt – politisch, wirtschaftlich, kirchlich – hat nicht das letzte Wort.
Adventliche Spiritualität hat hier eine leise, aber klare kritische Kraft:
Wir beten keinen Jesus an, der unsere Machtträume segnet,
sondern den Messias, vor dem Mächtige verstummen –
und die Armen, Suchenden, Fremden einen Platz finden.
Vielleicht heißt „O Radix Jesse“ heute auch:
Herr, mach uns zu einem Zeichen, das nicht sich selbst ausstellt,
sondern auf dich verweist – in unseren Gemeinden, in unserer Kirche, in unserem persönlichen Leben.

5. „Jam noli tardare“ – säume nicht länger- oder die geduldige Ungeduld
Die Antiphon schließt mit einem drängenden Ruf:
„Komm, befreie uns – säume nicht länger.“

Hier spricht nicht die kühle Vernunft, sondern das Herz, das zu lange gewartet hat:
•    Menschen, die nach Gerechtigkeit hungern,
•    Familien, die in Kriegen, Krisen, Fluchtgeschichten leben,
•    junge Leute, die nach Sinn suchen und nur Stümpfe sehen,
•    Ältere, die fragen: Wohin führt das alles?

Die Bibel kennt diese Sprache. Sie ist nicht respektlos. Sie ist Ausdruck der Vertrautheit mit Gott.
Der Prophet darf sagen: „Du scheinst zu zögern – und doch weiß ich: Du kommst.“
Der Beter darf rufen: „Herr, bitte, zögere nicht länger!“
Adventlich beten heißt dann nicht:
„Es wird schon irgendwann…“,
sondern: „Du hast versprochen – wir halten dich beim Wort.“
„Jam noli tardare“ – „säume nicht länger“ –
ist das Gebet einer Kirche, die sich nicht abfindet mit Stümpfen,
sondern auf den Spross besteht, der kommen soll.

6. Gebet: Zur Wurzel zurückkehren
Zum Schluss dürfen wir diese Antiphon in ein persönliches Gebet übersetzen:

O Wurzel Jesse,
du verborgene Treue Gottes in der Tiefe unserer Geschichte,
du Spross, der aus dem Stumpf wächst,
du Zeichen für die Völker, vor dem Könige verstummen:
sieh auf unsere Stümpfe –
auf das, was abgebrochen, abgesägt, tot erscheint
in unserem persönlichen Leben,
in unseren Familien, in unserer Kirche, in der Welt.
Lass uns deine Wurzel neu glauben,
dort, wo wir nur noch Holz und nicht mehr Leben sehen.
Lass aus unserer Müdigkeit einen neuen Spross wachsen,
aus unserer Ohnmacht eine neue Hoffnung,
aus unserer Schuld eine neue Gnade.
Mach uns zu einem Zeichen,
an dem Menschen verschiedener Völker, Sprachen und Geschichten
einen Ort der Hoffnung finden.

Und wenn du zögerst,
dann hören unseren Ruf:
Komm, Wurzel Jesse,
befreie uns –
säume nicht länger.
So führt „O Radix Jesse“ mitten in den Advent:
weg von oberflächlicher Stimmung,
hinein in eine tiefe, zähe Hoffnung,
die den Stumpf ernst nimmt –
und doch an die Wurzel glaubt,
die Gott selbst gelegt hat.

Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer ist der Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt. Er ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, ostkirchlicher Ekklesiologie und ostkirchlicher Liturgiewissenschaft. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig. Er veröffentlicht zu Fragen der Ökumene, des Frühen Mönchtums, der Liturgie der Ostkirchen und der ostkirchlichen Spiritualität. Weitere kath.net-Beiträge von ihm: siehe Link.

Symbolbild (c) Pater Andreas Fritsch FSO


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